BSG: Säumniszuschläge nur bei Vorsatz

Nach § 24 Abs. 2 SGB IV kann sich auch derjenige Beitragsschuldner exkulpieren, der infolge Fahrlässigkeit keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte, da der verwendete Verschuldensbegriff mindestens bedingten Vorsatz voraussetzt.
BSG, Beschluss vom 12.12.2018, B 12 R 15/18 R

Gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 SGB IV ist für Beiträge und Beitragsvorschüsse, die der Zahlungspflichtige nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags gezahlt hat, für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von eins vom Hundert des rückständigen, auf 50 Euro nach unten abgerundeten Betrags zu zahlen.

Nachverbeitragung selbst erfolgte rechtmäßig.

Die objektiven Voraussetzungen für die Erhebung von Säumniszuschlägen, deren Vorliegen die Beklagte nachzuweisen hat, sind hier erfüllt. Die von der Klägerin für die Beschäftigung des Beigeladenen zu 1. in der Zeit vom 17.10.2006 bis zum 18.11.2009 geschuldeten Beiträge hat sie nicht rechtzeitig gezahlt.

Exkulpationsmöglichkeit und deren Voraussetzungen

Wird eine Beitragsforderung – wie hier – durch Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit festgestellt, ist nach § 24 Abs. 2 SGB IV ein darauf entfallender Säumniszuschlag nicht zu erheben, soweit der Beitragsschuldner glaubhaft macht, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte. Diese Ausnahmeregelung setzt voraus, dass (a) der Beitragsschuldner keine Kenntnis von seiner Zahlungspflicht hat, (b) die Unkenntnis nicht verschuldet ist, (c) ihm auch Kenntnis oder Verschulden einer anderen Person nicht zurechenbar ist und (d) die unverschuldete Unkenntnis ununterbrochen bis zur Festsetzung der Säumniszuschläge durch Bescheid bestanden hat.

Keine Exkulpation bei Kenntnis von der Zahlungspflicht

Eine Exkulpation nach § 24 Abs. 2 SGB IV ist ausgeschlossen, wenn der säumige Beitragsschuldner Kenntnis von seiner Zahlungspflicht hatte (vgl BSG Urteil vom 17.4.2008 – B 13 R 123/07 R – BSGE 100, 215 = SozR 4-2400 § 25 Nr. 2, RdNr. 22). Während „Kenntnis“ nach seinem Wortsinn das Wissen von einer Tatsache bedeutet (Duden Onlinewörterbuch, Stichwort Kenntnis recherchiert am 23.10.2018), ist dem Begriff der „Zahlungspflicht“ über das Wissen der sie begründenden Tatsachen hinaus eine rechtliche Wertung i.S. des Erkennens einer konkreten Verhaltensanforderung immanent (ähnlich zur Meldepflicht im SGB III BSG Urteil vom 25.5.2005 – B 11a/11 AL 81/04 R – BSGE 95, 8 RdNr. 19 = SozR 4-4300 § 140 Nr. 1, RdNr. 26).

Kenntnis setzt sicheres Wissen voraus

Kenntnis von der Zahlungspflicht nach § 24 Abs. 2 SGB IV ist damit das sichere Wissen darum, rechtlich und tatsächlich zur Zahlung von Beiträgen verpflichtet zu sein (so bereits zu § 25 SGB IV BSG Urteil vom 16.12.2015 – B 12 R 11/14 R – BSGE 120, 209 = SozR 4-2400 § 28p Nr. 6, RdNr. 65). Sie liegt bei einem nach § 28e SGB IV zahlungspflichtigen Arbeitgeber vor, wenn er die seine Beitragsschuld begründenden Tatsachen kennt, weil er zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre nachvollzieht, dass einerseits Beschäftigung vorliegt, die andererseits die Beitragspflicht nach sich zieht.
Das Wissen um die (bloße) Möglichkeit der Beitragserhebung steht dem sicheren Wissen um die rechtliche und tatsächliche Verpflichtung zur Beitragszahlung hingegen nicht gleich (BSG Urteil vom 16.12.2015 – B 12 R 11/14 R – BSGE 120, 209 = SozR 4-2400 § 28p Nr. 6, RdNr. 68).

Irrtum schließt Kenntnis aus

Ein Irrtum über die Arbeitgebereigenschaft schließt die Kenntnis aus (ähnlich zum Straftatbestand des § 266a StGB: BGH Urteil vom 24.1.2018 – 1 StR 331/17 – Juris; vgl auch BGH Urteil vom 5.3.1986 – 2 StR 666/85 – Juris).

Unkenntnis muss unverschuldet sein

Allein das Fehlen der Kenntnis von der Beitragszahlungspflicht steht der Festsetzung von Säumniszuschlägen noch nicht entgegen. Vielmehr sind Säumniszuschläge nur dann nicht zu erheben, wenn die Unkenntnis unverschuldet ist.

Verschulden setzt mindestens bedingten Vorsatz voraus

Dieses (Un-)Verschulden bestimmt sich nicht nach § 276 BGB, sondern setzt – wie das LSG zutreffend ausgeführt hat – aufgrund eines eigenständigen Verschuldensmaßstabs wenigstens bedingten Vorsatz voraus (vgl. BSG Urteil vom 26.1.2005 – B 12 KR 3/04 R – SozR 4-2400 § 14 Nr. 7 RdNr. 36; Schlegel in Küttner Personalbuch 2018, Säumniszuschläge RdNr. 16). Hierfür sprechen der Wortlaut des § 24 Abs. 2 SGB IV (1), systematische Erwägungen (2) und der Zweck der Säumniszuschläge (3). Mit diesem Auslegungsergebnis widerspricht der erkennende Senat nicht der Rechtsprechung des 13. Senats (4).
§ 24 Abs. 2 SGB IV verwendet den Begriff „unverschuldet“, während § 276 BGB zur Bestimmung der Verantwortlichkeit eines Schuldners für Pflichtverletzungen festlegt, dass dieser Vorsatz und Fahrlässigkeit „zu vertreten“ hat. Die unterschiedliche Formulierung legt es nahe, dass § 24 Abs. 2 SGB IV nicht auf § 276 BGB Bezug nimmt und der Verschuldensmaßstab der Sozialrechtsnorm nicht zwingend mit demjenigen des Zivilrechts übereinstimmen muss.
Dass entgegen der Ansicht der Beklagten nicht auf einen aus § 276 BGB abzuleitenden, im Privat- und öffentlichen Recht allgemein geltenden Verschuldensgrundsatz zurückzugreifen ist, wird durch die Gesetzessystematik bestätigt. Danach ist für die Bestimmung des Verschuldensmaßstabs in § 24 Abs. 2 SGB IV ebenso wie nach § 14 Abs. 2 SGB IV und § 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV auf bedingten Vorsatz abzustellen [In der Entscheidung wird an dieser Stelle sehr umfangreich auf Rechtsprechung und Literatur hingewiesen].
Das SGB IV normiert unterschiedliche Rechtsverhältnisse und knüpft dabei an jeweils eigenständige Verschuldensmaßstäbe an.
§ 24 Abs. 2 SGB IV betrifft [..] die rückwirkende Beitragsfestsetzung durch die Einzugsstelle oder den Sozialversicherungsträger und damit (u.a.) deren Verhältnis zum Arbeitgeber als zahlungspflichtiger Schuldner rückständiger Beiträge.

„Einheitlicher Regelungskomplex“ auch für Verjährung und Beitragsbemessung (Nettolohnfiktion)

Für die rückwirkende Erhebung von Beiträgen bei Arbeitgebern gelten neben § 24 Abs. 2 SGB IV auch die Regelungen des § 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV über die Verjährung vorsätzlich vorenthaltener Beiträge und des § 14 Abs. 2 SGB IV über das bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen zugrunde zu legende Arbeitsentgelt. Beide Vorschriften setzen zumindest bedingten Vorsatz voraus (BSG Urteil vom 9.11.2011 – B 12 R 18/09 R – BSGE 109, 254 = SozR 4-2400 § 14 Nr. 13, RdNr. 16, 25 ff; BSG Urteil vom 30.3.2000 – B 12 KR 14/99 R – SozR 3-2400 § 25 Nr. 7 S. 35 f; BSG Urteil vom 16.12.2015 – B 12 R 11/14 R – BSGE 120, 209 = SozR 4-2400 § 28p Nr. 6, RdNr. 64). § 24 Abs. 2 SGB IV bildet zusammen mit § 14 Abs. 2 und § 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV einen einheitlichen Regelungskomplex mit der Folge eines einheitlichen Haftungsmaßstabs.

Auch der Zweck der Säumniszuschläge spricht für das Ergebnis
Gestützt wird diese Auslegung durch teleologische Aspekte.

Es entspricht nicht der Zielsetzung des Gesetzgebers, für das Verschulden bereits Fahrlässigkeit ausreichen zu lassen. Säumniszuschläge sanktionieren eine verspätete Beitragszahlung. Durch sie soll – ähnlich einem Zwangsgeld – einerseits Druck auf den Zahlungspflichtigen ausgeübt werden, fällige Beiträge rechtzeitig zu zahlen, und es den Sozialversicherungsträgern andererseits ermöglicht werden, ihren Leistungsaufgaben fristgerecht nachzukommen. Die mit der Erhebung von Säumniszuschlägen angestrebte Drucksituation bleibt aber unspezifisch und ist nicht zur Durchsetzung der rechtzeitigen Zahlung im Einzelfall geeignet, wenn der Zahlungspflichtige keinen hinreichenden Anhaltspunkt für seine Beitragsschuld hat.

Zweck kann rechtmäßig nur bei Kenntnis von Zahlungspflicht erreicht werden.

Unter Berücksichtigung des bei der Festsetzung von Säumnis-zuschlägen zu beachtenden verfassungsrechtlichen Verhältnismäßig-keits¬prinzips kann der Zweck der Säumniszuschläge, die rechtzeitige Zahlung der Beiträge durchzusetzen, rechtmäßig nur erreicht werden, wenn der betroffene Arbeitgeber seine Zahlungspflicht zumindest für möglich hält und billigend in Kauf nimmt.
Das gilt umso mehr, als die Ausnahmeregelung des § 24 Abs. 2 SGB IV unbillige Härten vermeiden soll, die entstehen würden, wenn Säumniszuschläge auch für Zeiten vor der Festsetzung von Sozialversicherungsbeiträgen erhoben werden müssten, obwohl der Beitragsschuldner unverschuldet keine Kenntnis von seiner Zahlungspflicht hatte.

Unterbliebenes Statusfeststellungsverfahren führt nicht automatisch zu Vorsatz

Für die Härtefallregelung bliebe aber kaum ein denkbarer Anwendungsbereich, wenn bereits fahrlässiges Verhalten, insbesondere durch die unterbliebene Einleitung eines Statusfeststellungsverfahrens nach § 7a SGB IV oder fehlende Herbeiführung einer Entscheidung der Einzugsstelle nach § 28h SGB IV, die unverschuldete Unkenntnis ausschließen würde. Das fakultativ ausgestaltete Statusfeststellungsverfahren würde entgegen dem Gesetzeswortlaut des § 7a Abs. 1 S. 1 SGB IV faktisch obligatorisch.

Verschuldenszurechnung von Organen

Ist eine juristische Person des Privatrechts – wie die hier klagende GmbH – Beitragsschuldnerin, kommt es zunächst auf die Kenntnis oder unverschuldete Unkenntnis zumindest eines Mitglieds eines Organs von der Beitragspflicht an. Wissen und Verschulden eines vertretungs¬berechtigten Organmitglieds ist als dasjenige des Organs anzusehen und damit auch der juristischen Person zuzurechnen (vgl BSG Urteil vom 16.12.2015 – B 12 R 11/14 R – BSGE 120, 209 = SozR 4-2400 § 28p Nr. 6, RdNr. 66 mwN).

Verschuldenszurechnung anderer mit der sozialversicherungs-rechtlichen Bewertung beauftragter Vertreter

Das gleiche gilt nach dem Rechtsgedanken der §§ 166, 278 BGB für andere zum Vertreter der juristischen Person bestellte natürliche Personen, sofern sie eigenverantwortlich mit der sozialversicherungs-rechtlichen Bewertung einer Tätigkeit für die juristische Person und der Erfüllung ihrer Zahlungspflicht betraut sind (vgl BGH Urteil vom 28.2.2012 – VI ZR 9/11 – Juris RdNr. 13 f).

Organisationsverschulden

Auch die Kenntnis und das Verschulden weiterer im Rahmen einer betrieblichen Hierarchie verantwortlicher Personen kann der betroffenen juristischen Person zuzurechnen sein, wenn keine Organisationsstrukturen geschaffen wurden, um entsprechende Informationen aufzunehmen und intern weiterzugeben (vgl. BSG Urteil vom 16.12.2015 – B 12 R 11/14 R – BSGE 120, 209 = SozR 4-2400 § 28p Nr. 6, RdNr. 66 mwN).

„soweit“-Regelung: Exkulpation nur für die Zeit der Unkenntnis

Säumniszuschläge sind für die Vergangenheit ab Kenntnis oder verschuldeter Unkenntnis zu erheben. § 24 Abs. 2 SGB IV sieht eine Exkulpation des Zahlungspflichtigen nur vor, „soweit“ er eine unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht glaubhaft macht. Damit kann eine unverschuldete Unkenntnis auch lediglich hinsichtlich eines Teils der Beitragsschuld – auch in zeitlicher Hinsicht – bestehen. Säumniszuschläge sind deshalb nur für die Zeit nach der Fälligkeit der geschuldeten Beiträge zu erheben, in der keine unverschuldete Unkenntnis (mehr) vorliegt, der Beitragsschuldner also positive Kenntnis von seiner Zahlungspflicht oder seine Unkenntnis verschuldet hat.
Ob die Klägerin auf der Grundlage dieser Maßstäbe Säumniszuschläge zu zahlen hat, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Gelangt das LSG zu der Feststellung, dass der Geschäftsführer der Klägerin durchgehend unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte, keine weiteren Geschäftsführer bestellt waren oder – falls doch – diese ebenso durchgehend kein Verschulden traf, hat es zu klären, ob der als Zeuge gehörte Disponent oder eine andere Person für die Beurteilung der Zahlungspflicht zumindest mitverantwortlich war.
Nach den festgestellten Angaben des gehörten Disponenten ging dessen Funktion als Mitgesellschafter der Klägerin über diejenige eines einfachen Disponenten hinaus. Das LSG hat daher zu ermitteln, ob er oder weitere im Unternehmen der Klägerin tätige Personen eigenverantwortlich mit der sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung der Tätigkeit des Beigeladenen zu 1. betraut waren oder ihre Kenntnis vom Bestehen oder jedenfalls der Möglichkeit der Zahlungspflicht intern hätten weitergeben müssen. Das LSG hat den Kenntnisstand der als maßgeblich ermittelten Personen festzustellen, gegebenenfalls deren Verschulden im zeitlichen Verlauf zu prüfen und bei entsprechenden Anhaltspunkten ein Organisationsverschulden der Klägerin zu klären.

Verzicht auf Rechtsrat kann u.U. für Vorsatz sprechen

Es kann aber im Rahmen bedingten Vorsatzes vorwerfbar sein, wenn ein Arbeitgeber bei Unklarheiten hinsichtlich der versicherungs- und beitragsrechtlichen Beurteilung einer Erwerbstätigkeit darauf verzichtet, die Entscheidung einer fachkundigen Stelle herbeizuführen (vgl BSG Urteil vom 9.11.2011 – B 12 R 18/09 R – BSGE 109, 254 = SozR 4-2400 § 14 Nr. 13, RdNr. 33; BSG Urteil vom 24.3.2016 – B 12 KR 20/14 R – SozR 4-2400 § 7 Nr. 29, RdNr. 35).

Risiko allerdings nicht allein beim Arbeitgebern

Allerdings darf nicht das gesamte Risiko der Einordnung komplexer sozialversicherungsrechtlicher Wertungsfragen den Arbeitgebern überantwortet werden (vgl BSG Urteil vom 18.11.2015 – B 12 R 7/14 R – Juris RdNr. 27), so dass sich Schematisierungen verbieten. Es bedarf deshalb der individuellen Überprüfung des bedingten Vorsatzes unter sorgfältiger Beweiswürdigung im Einzelfall (vgl. BSG Urteil vom 4.9.2018 – B 12 KR 11/17 R – Juris RdNr. 26, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).

Objektive Beweislast trägt der Arbeitgeber – Glaubhaftmachung reicht aus

Für die unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht trägt die Klägerin die objektive Beweislast. § 24 Abs. 2 SGB IV ist als Ausnahme von der Erhebung von Säumniszuschlägen ausgestaltet, so dass derjenige beweispflichtig ist, der sich auf die rechtsbegründenden Tatsachen der Ausnahme beruft (vgl BSG Urteil vom 2.12.2008 – B 2 U 26/06 R – BSGE 102, 111 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 29, RdNr. 30 ff). Dabei genügt der abgesenkte Beweisgrad der Glaubhaftmachung.

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